Die Zungenkarte: Ein weit verbreitetes Missverständnis
Jeder hat schon einmal die Zungenkarte gesehen, diese Darstellung der Zunge mit verschiedenen Bereichen für unterschiedliche Geschmacksrichtungen: süß vorne, salzig und sauer an den Seiten, bitter hinten. Sie ist ein ikonisches Bild in der Geschmacksforschung, aber sie ist falsch.
Geschmacksrezeptoren: Wie sie funktionieren
Geschmacksrezeptoren sind nicht auf bestimmte Bereiche der Zunge beschränkt. Stattdessen sind sie über ihre gesamte Oberfläche verteilt. Diese Rezeptoren erkennen die vier Grundgeschmacksrichtungen: süß, salzig, sauer und bitter. Umami, der herzhafte Geschmack von Glutamat (in Mononatriumglutamat oder MSG enthalten), wird heute als fünfte Grundgeschmacksrichtung anerkannt.
Wahrnehmungsschwellen für den Geschmack
Die Empfindlichkeit von Geschmacksrezeptoren variiert auf der Zunge. Die Spitze und die Ränder sind besonders empfindlich, da sie viele Geschmacksknospen enthalten, die Sinnesorgane, die den Geschmack wahrnehmen. Die Unterschiede in der Empfindlichkeit sind jedoch geringfügig, und alle Bereiche der Zunge können alle Geschmacksrichtungen wahrnehmen.
Der Ursprung der Zungenkarte
Die Zungenkarte entstand aus einer Studie des deutschen Wissenschaftlers David P. Hänig aus dem Jahr 1901. Hänig maß die Wahrnehmungsschwellen für den Geschmack an den Rändern der Zunge. Seine Ergebnisse zeigten, dass verschiedene Teile der Zunge leicht niedrigere Schwellenwerte für bestimmte Geschmacksrichtungen aufwiesen.
Hänigs Diagramm seiner Messungen war jedoch eher eine künstlerische Interpretation als eine genaue Darstellung. Es ließ den Anschein erwecken, als seien verschiedene Teile der Zunge für unterschiedliche Geschmacksrichtungen zuständig.
In den 1940er Jahren überarbeitete der Harvard-Psychologieprofessor Edwin G. Boring Hänigs Diagramm in seinem Buch „Sensation and Perception in the History of Experimental Psychology“. Borings Version hatte keine aussagekräftige Skalierung, was zur Entstehung der Zungenkarte führte, wie wir sie heute kennen.
Wissenschaftliche Beweise gegen die Zungenkarte
Zahlreiche Experimente haben die Zungenkarte widerlegt. Beispielsweise haben Studien gezeigt, dass alle Bereiche des Mundes, die Geschmacksknospen enthalten, einschließlich Zunge, Gaumen und Rachen, für alle Geschmacksqualitäten empfindlich sind.
Eine Schädigung des Nervus chorda tympani, der die Geschmackswahrnehmung am vorderen Teil der Zunge versorgt, führt nicht zum Verlust der Fähigkeit, Süßes zu schmecken. Tatsächlich können Personen mit einer Schädigung des Nervus chorda tympani eine verbesserte Fähigkeit entwickeln, Süßes zu schmecken.
Molekularbiologie und Geschmacksrezeptoren
Auch die moderne Molekularbiologie widerspricht der Zungenkarte. Forscher haben Rezeptorproteine auf Geschmackszellen identifiziert, die für die Erkennung von Geschmacksmolekülen verantwortlich sind. Süßrezeptoren befinden sich im gesamten Mund, nicht nur im vorderen Bereich. Ebenso befinden sich Bitterkeitsrezeptoren in allen Geschmacksbereichen.
Der wahre Test
Der beste Weg, die Zungenkarte zu widerlegen, ist ein einfaches Experiment. Brühen Sie eine Tasse Kaffee auf, öffnen Sie eine Dose Limonade und berühren Sie die Spitze Ihrer Zunge mit einer gesalzenen Brezel. Sie werden schnell feststellen, dass Ihre Zunge alle Geschmacksrichtungen wahrnehmen kann, unabhängig von ihrer Position.
Trotz der wissenschaftlichen Beweise hält sich die Zungenkarte im allgemeinen Wissen hartnäckig und wird immer noch in vielen Klassenzimmern und Lehrbüchern gelehrt. Sie ist ein Beweis für die Macht visueller Darstellungen und die Schwierigkeit, Missverständnisse zu beseitigen, wenn sie sich erst einmal festgesetzt haben.