Lesen und Gesichtserkennung: Eine unerwartete Verbindung
Hintergrund
Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass Menschen, die viel lesen, Schwierigkeiten haben, sich Gesichter zu merken? Das ist vielleicht kein Zufall. Eine aktuelle Studie, die in der renommierten Fachzeitschrift Science veröffentlicht wurde, legt nahe, dass Lesen unsere Fähigkeit zur Gesichtserkennung tatsächlich beeinträchtigen kann.
Die Studie
Ein internationales Team von Neurowissenschaftlern untersuchte mithilfe von fMRT-Scans die Gehirne von 63 Teilnehmern aus Portugal und Brasilien. Die Teilnehmer wurden in drei Gruppen eingeteilt: Analphabeten, Erwachsene, die erst später im Leben lesen gelernt hatten, und Kinder, die schon in jungen Jahren lesen gelernt hatten.
Die Forscher überwachten die Gehirnaktivität, während die Teilnehmer verschiedene Aufgaben ausführten, wie z. B. Lesen, Anhören von Sätzen und Betrachten von Bildern von Gesichtern, Objekten und sich bewegenden Mustern.
Ergebnisse
Die Studie ergab, dass ein Bereich des Gehirns, der als visuelle Wortform-Region (VWFA) bezeichnet wird, aktiv wurde, wenn die Teilnehmer Wörter sahen oder hörten. Interessanterweise reagierte die VWFA auch auf Gesichter, jedoch weniger stark bei den leseerfahrenen Probanden.
Dies deutet darauf hin, dass Lesen möglicherweise einige der gleichen neuronalen Bahnen nutzt, die auch an der Gesichtswahrnehmung beteiligt sind. Folglich kann umfangreiches Lesen zu einer Abnahme der Fähigkeit des Gehirns führen, Gesichter effizient zu verarbeiten.
Mögliche Erklärungen
Eine mögliche Erklärung für dieses Ergebnis ist, dass sich das visuelle System ständig an die Umgebung anpasst. Wenn wir lesen lernen, weist das Gehirn mehr Ressourcen der Verarbeitung geschriebener Sprache zu, was zu Lasten der Gesichtswahrnehmung gehen kann.
Eine andere Theorie besagt, dass Lesen mit der Gesichtswahrnehmung um Aufmerksamkeitsressourcen konkurrieren kann. Wenn wir lesen, konzentrieren wir uns auf die Wörter und ihre Bedeutung, was es schwieriger machen kann, gleichzeitig visuelle Informationen über Gesichter zu verarbeiten.
Implikationen
Die Ergebnisse dieser Studie haben mehrere Implikationen. Erstens deuten sie darauf hin, dass es einen Zielkonflikt zwischen Lesefähigkeiten und Gesichtswahrnehmungsfähigkeiten geben kann. Personen, die in einem Bereich herausragend sind, können im anderen Bereich Schwierigkeiten haben.
Zweitens unterstreicht die Studie die Plastizität des Gehirns. Lesen kann neuronale Bahnen umgestalten und die Art und Weise verändern, wie wir visuelle Informationen verarbeiten.
Vorteile des Lesens
Obwohl Lesen einige potenzielle Nachteile für die Gesichtserkennung haben kann, ist es wichtig zu beachten, dass es auch zahlreiche kognitive Vorteile bietet. Es hat sich gezeigt, dass Lesen die Sprachfähigkeiten, das Gedächtnis und das kritische Denkvermögen verbessert.
Fazit
Die Beziehung zwischen Lesen und Gesichtserkennung ist komplex und wird noch untersucht. Die aktuelle Studie liefert jedoch Hinweise darauf, dass Lesen unsere Fähigkeit, Gesichter wahrzunehmen, beeinträchtigen kann. Dieser Befund hat Auswirkungen auf unser Verständnis davon, wie das Gehirn visuelle Informationen verarbeitet, und auf die möglichen Zielkonflikte, die mit verschiedenen kognitiven Fähigkeiten verbunden sind.